Nach den ersten Tagen, in denen wir in Sams Gastgeberwatte
gepackt werden und uns wenig Gedanken machen müssen, geht unsere Reise nun
vorerst alleine weiter. Ein Lächeln macht sich breit, als wir vor einem original
deutschen ICE stehen, der uns mit 305 km/h in sieben Stunden über 1.800
Kilometer von Ningbo nach Peking bringt. Auf dem Weg wird klar, was mit dem
chinesischen Boom der letzten Jahre gemeint ist. Zigtausende Hochhäuser, die in
uns völlig unbekannten Städten entlang der Strecke gebaut werden, neue Straßen,
Brücken, Bahnhöfe. Jede Stadt ist riesig. Zwischen den Städten erstrecken sich
auf hunderten Kilometern bewirtschaftete Felder. Scheinbar jede Woche eröffnen
neue U-Bahn- oder Schnellzuglinien, die teilweise noch nicht einmal in der
Karte verzeichnet sind. Die andere Seite ist, dass China aktuell vor dem Platzen dieser Investitionsblase steht. Ein Großteil der
Ausländer, die hier leben, bringt das Ersparte bereits außer Landes. Denn alle
haben die Angst, wenn Chinas Banken kippen, dann trifft es zuerst die
Ausländer. Ein weiterer Seitenhieb: Die Datenautobahn hält mit der
beeindruckenden verkehrlichen Infrastruktur leider nicht mit. Im Internet zu
sein ist in China eine Qual. Das liegt zum einen an der chinesischen Paranoia,
im Internet gingen ungehörige Dinge vor, die die nationale Sicherheit bedrohen.
Facebook oder private Blogs sind daher von Vornerhein gesperrt. Dennoch sitzt
in den Hostels natürlich jeder Reisende vor seinem Rechner und probiert es
trotzdem. Wer bereit ist Geld auszugeben, der lädt sich ein
Verschlüsselungsprogramm herunter, mit dem man über ausländische Server dann
doch auf die entsprechenden Seiten kommt.
Trauriger Nebeneffekt der elektronischen Kommunikation ist
übrigens der Umstand, dass im Unterschied zu meiner ersten längeren
Südamerikareise vor über sieben Jahren in den Hostels weniger miteinander
gesprochen wird als vielmehr auf den Bildschirm gestarrt. Wurde sich damals
vor allem über Reiseerfahrungen ausgetauscht, zum Abendessen verabredet oder
schlicht friedlich gesoffen, gilt das Interesse jetzt vor allem dem Internet.
Fast alle sitzen in den Bars, an der Rezeption oder der Hostellounge und
beschäftigen sich zunächst mit dem eigenen Notebook. Hostels verlieren dadurch
leider enorm an Atmosphäre.
Es folgen aufregende und unvergessliche Tage in Peking,
Xi´an und Chengdu. In Peking besuchen wir den Platz des Himmlischen Friedens,
die Verbotende Stadt und natürlich die Chinesische Mauer, die uns wirklich
erschlägt. Selten haben wir etwas so Überwältigendes gesehen. Bis zu drei
Millionen Menschen haben an der Mauer gearbeitet und sie nach über 300 Jahren
Bauzeit mit einer stattlichen Länge von 6.000 Kilometern und einer Höhe von bis
zu 12 Metern beendet. Der Tiananmen Platz wird wie erwartet von einem riesigen
Polizeiaufgebot und Kameras überwacht. Sam meint dazu, von den jungen Chinesen
weiß so gut wie keiner mehr etwas vom Aufstand 1989 auf dem Platz. Auch das ist
das Ergebnis der Internetblockade. Ebenso abrupt kühlt eine lustige Abendrunde
ab, wenn sich die Frage stellt, ob Taiwan zu China gehört oder nicht. Einige
Reisende berichten davon, dass sie ihren Lonely Planet bei der Einreise
entweder ganz abgeben mussten oder zumindest die entsprechenden Seiten über
Taiwan herausreißen.
In Xi´an besuchen wir die Terrakottakrieger. Auch dieser
Besuch ist unvergesslich. Selbst wenn erst ein Viertel des gesamten Areals
freigelegt ist, sind bereits jetzt mehrere tausend dieser unterirdischen Krieger
wiederhergestellt und formieren sich zu einer beeindruckenden Armee. Sie alle
bewachen die sterblichen Überreste von Kaiser Qin Shi Huang. Er selbst liegt in
einem noch ungeöffneten Mausoleum zwei Kilometer entfernt. Angeblich soll es darin
weitere Verteidigungsanlagen und Flüsse aus Quecksilber gegeben haben. Rund
700.000 Arbeiter sollen an dieser Grabstadt gebaut haben. Zum Dank durften sie
nach getaner Arbeit ableben und wurden gleich mit in der Grabesstadt beerdigt. Bevor
wir nach Chengdu weiterreisen, wo wir eine Pandaaufzuchtstation besuchen,
schlendern wir noch über die wiederhergestellte Stadtmauer von Xi´an. Die Mauer,
die sich im Quadrat um die Innenstadt schließt, hat eine Gesamtlänge von 14
Kilometer. Wer will, kann die Mauer sogar mit dem Fahrrad abfahren. Von hier
oben bietet sich ein seltener Einblick in die Häuser der Einheimischen, aber
auch auf den drückenden Smog, der nicht nur über dieser Stadt liegt. Bis auf
die ersten Tage in Ningbo haben wir nirgendwo mehr den blauen Himmel gesehen.
Wir versuchen, den Gedanken beiseite zu schieben,
permanent dieser giftigen Suppe ausgesetzt zu sein. Und ginge es nur um die
Luft, würden wir auf der Stelle weiterreisen.
Ziel einer solchen Reise ist es natürlich, die einheimische
Kultur zumindest ansatzweise kennenzulernen. Da das aufgrund der nahezu
unmöglichen Kommunikation zwischen uns und den Chinesen ausgeschlossen ist, bin
ich fast etwas froh, dass wir auf unserem Weg von Xi´an nach Chengdu keinen
Schnellzug mehr bekommen, sondern nur noch zwei der wenigen Restplätze in der
günstigsten Zugklasse eines Bummelzuges. 16 Stunden Fahrt in einem unbequemen
Eisenbahnwaggon mit vielen Einheimischen quer durch das chinesische Hinterland versprechen
tolle Beobachtungen. Und wir werden nicht enttäuscht. So ungeschönt wie möglich
erhalten wir einen grandiosen Einblick in die Verhaltensweise der Chinesen, die
uns nach ewigen 16 Stunden zum einen staunend, zum anderen aber mindestens
genauso verstört zurücklassen.
Auf uns bricht ein Potpourri der abstrusesten Geräusche
nieder. Ungehemmt wird gewürgt, geschmatzt, gegurgelt, gebellt, gegrunzt und
gegackert. Unter lautem Rülpsen werden Hühnerfüße, in Tee eingelegte Eier und die
allgegenwärtigen Instantsuppen verspeist. Leute führen ihre Schildkröten mit. Verschiedene Mitfahrende überbieten
sich in der Lautstärke ihrer mitgebrachten Filme oder der Handyspiele. Das
iPhone wird dazu entsprechend mit Zusatzboxen ausgestattet, damit auch am Ende
des Waggons jeder noch etwas versteht. Nach Durchlass wird nicht gefragt,
sondern durch eindringliches Drücken, Schubsen und Vorbeischieben Nachdruck
verliehen. Überhaupt scheint Nächstenliebe in China wenig Platz im normalen
Leben einzunehmen. Ob im Straßenverkehr, im Supermarkt oder eben im Zug -
selten habe ich erlebt wie sich Menschen derart egoistisch verhalten. Es gilt
das Recht des Stärkeren. 'Me first' ist das Motto.
Daraus entwickelt sich aber auch ein Lieblingsspiel von
Nicole und mir. Wann immer, und das ist oft der Fall, sich Leute in der U-Bahn
oder auf der Straße anschreien und sich fast an die Gurgel gehen, dichten wir
liebevolle Worte in die Kommunikation hinein. Das klingt dann in etwa so: „Ach
haben Sie meinen kleinen mobilen Verkaufsstand nicht gesehen, als Sie mit Ihrem
Moped über den Fußweg gefahren sind? Das macht nichts, Hauptsache es ist
Frieden.“ „Ja, Sie haben Recht, kann ja mal vorkommen. Schöne Waren des
täglichen Bedarfs haben Sie da vor sich ausgebreitet. Naja, ich muss dann mal
wieder. Einen schönen Tag Ihnen.“ Am Ende müssen wir jedesmal herzhaft lachen
und kringeln uns.
Im Herzen von China, wo Ausländer in etwa so selten
vorkommen wie freie Medien, erregt unsere Mitfahrt natürlich Interesse.
Zwischendurch kommt sogar eine Schaffnerin, um ausschließlich unsere Tickets zu
kontrollieren. Es kann schließlich nicht sein, dass zwei Langnasen in der
einfachsten Zugklasse fahren, während es am Ende des Zuges bequeme aber leider
ausverkaufte Schlafwagen gibt. Jeder Mitreisende, der sich an uns vorbeischiebt
– und das kommt in etwa alle 30 Sekunden vor – kommt aus dem Staunen nicht mehr
raus. Schamlos werden wir angestarrt. Selbst Lachen, Grimassen oder eisiges
Zurückstarren helfen nicht. Einige laufen tatsächlich gegen die Abteiltür, weil
sie noch zehn Meter weiter zu uns zurückstarren. Zu allem Verdruss zeigt sich
zudem, dass mehr als die Hälfte der Chinesen Gefallen am Glimmstengel gefunden
hat. Nach vier Stunden ist der Zug in etwa so verraucht, wie eine eigentlich
rauchfreie Bar in Prenzlauer Berg und die Nerven von uns ziemlich strapaziert.
Aber es gibt auch schöne Momente. Die anderen Mitreisenden in unserem Sechsersitz versuchen uns mit einzubeziehen. Und wenn Sprache nicht funktioniert, dann tut es eben vor allem ein Lächeln oder eine kleine Geste. Auf einer der letzten Zugreisen in China zurück nach Shanghai – wir haben keine Sitzplatzreservierung – verzichtet bspw. ein junger Chinese unseretwegen auf seinen Platz und steht stattdessen sieben Stunden an der Zugtoilette. Diese Momente prägen und lassen uns China in einem ausgewogenen Licht in Erinnerung bleiben. Wir geben diese schönen Momente dadurch zurück, dass wir zwischendurch unser Essen teilen oder beim Gepäck behilflich sind. 1,80 Meter Körpergröße gelten in China immerhin etwas.
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